‹Seine Musicale›, Paris, 2017
Oben: Der markante Rundbau der Seine Musicale im Aufbau. Links ist das 45 m hohe Solarsegel aus Stahl und Fotovoltaikelementen sichtbar, das, auf Schienen geführt, dem Tagesverlauf der Sonne folgt und sowohl Beschattung als auch Stromproduktion sichert. Unten: Sechseckige Akustikelemente aus Abachi mit eingepassten Röhrenelementen aus Karton, strukturierte Holzwände aus Buche mit hellem Eichenfurnier und Eichenparkett dominieren den Innenausbau.
Bilder Seine Musicale/Laurent Blossier
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Wie ein Schiff im Trockendock erstreckt sich ein rund 300 m langgezogener Sockelbau aus Beton auf der Île de Seguin, einer vordem von der Autofabrik Renault genutzten Insel in der Seine. Ihr Wahrzeichen ist ein riesiger, als Brettschichtholz-Konstruktion mit Glas konstruierter, gerundeter Aufbau. Von weitem wirkt er wie eine immense gläserne Perle.
Die Gemeinde konnte 2010 das Terrain für den symbolischen Preis von einem Euro erwerben. Bereits zuvor gab es Pläne, hier eine Kulturinsel zu verwirklichen Die Fondation Pinault wollte dort nach den Plänen von Tadao Ando ein Kunstmuseum erstellen – heute ist es in der Punta Dogana Venedigs realisiert. Architekt Jean Nouvel hatte zudem einen Bebauungsplan entworfen, der zwar nicht zur Ausführung kam, jedoch als Masterplan gilt.
Und nun haben Shigeru Ban und Jean de Gastines hier ihren Entwurf für ein Konzerthaus verwirklichen können, die ‹Seine Musicale›, Flaggschiff des Stadterneuerungsprogramms. Im Sommer 2013 lag die Baubewilligung vor, im Dezember begannen die Vorarbeiten, im Juli 2014 erfolgten die Fundationen, im Dezember 2016 konnte der Bau beendet und übergeben werden. Die ursprünglich auf Herbst 2016 geplante Eröffnung ist nun ins Frühjahr 2017 gefallen.
Ein Foyer als Architekturpromenade
Das Publikum betritt die Anlage durch eine rekordverdächtig grosse Glastüre von 10,5 m Höhe und 10 m Breite, die mit ihrem Gewicht von fünf Tonnen mit hydraulischer Kraft bewegt wird. Eine innenliegende ‹Strasse› (Le grand foyer) quert dieses riesige Gebäude vom östlichen Vorplatz bis zur Spitze der Insel. Das langgezogene Foyer enthält Boutiquen, Bars, Restaurants und erschliesst sämtliche Funktionen: den grossen Saal (‹Salle modulable›), Empfangsräume und Auditorium.
29 Aufzüge verbinden das Foyer mit Zuschauerrängen. 43500 m2 sind voll und ganz für Musikevents reserviert. Im Auditorium sind jährlich 40 Konzerte für das hauseigene ‹Insula Orchestra› reserviert. Und auch die Musikakademie des Kontertenors Philippe Jaroussky wird hier beheimatet sein. Insgesamt sollen in der ‹Seine Musicale› jährlich 300 Konzerte stattfinden. Zudem enthält der Bau fünf modernste Probe- und Aufnahmestudios.
Das Auditorium bietet 1150 Plätze, und der grosse Saal umfasst 4000 Sitz- oder bis 6000 Stehplätze, je nach Nutzung. Rund tausend sechseckig geformte, grosse Akustikpanels aus hellem Abachi mit eingelegten Elementen aus Kartonröhren gliedern die Decke des Saals und verleihen dem Raum zusammen mit den wie geflochten wirkenden Holzverkleidungen der Wände aus Buchenstreifen mit hellem Eichenfurnier und dem Eichenparkett eine angenehme Akustik und optische Präsenz. Im vierten Geschoss findet sich ein mit 700 m2 grosszügig bemessenes Promenadendeck für das Publikum, das auch den Blick auf das bepflanzte Dach freigibt.
Holz-Glas-Konstruktion mit Umweltansprüchen
Die Architekten sprechen von dem Bau auch als Symbol für eine der Umwelt angepasste Technik. Gemeint ist damit das mächtige, 45 m hohe Metallsegel ausserhalb der gerundeten Struktur des Auditoriums. Es umfährt, auf Luftkissen gelagert und in Schienen geführt, die Baustruktur langsam auf einer Strecke von rund 100 m und richtet dabei seine 800 m2 Fotovoltaikzellen stets in optimalem Winkel zur Sonne aus.
Der markante, bei näherem Hinsehen eher eiförmige als runde Aufbau (Masse Längsachse 70 m, Querachse 45 m) ist mit einem Tragwerk aus 700 m3 Brettschichtholz konstruiert und mit einer Verglasung von 4000 m2 versehen. Die Brettschichtholzstäbe (Fichte) sind untereinander über Holz-Holz-Verbindungen verbunden. Die Diagonalen kreuzen sich schubfest in Überblattungen.
An den Stabenden der horizontalen Gurten werden gewaltige Zugkräfte im Stoss über gezackte Schäftungen mechanisch übernommen. Die dazu erstmals benutzten Nockenleisten bestehen aus hochfestem Buchensperrholz. Diese Konstruktion aus Holz und Glas umfasst die darinliegende komplexe Betonstruktur und gibt der Anlage ihre architektonische Identität.
Schweizer Ingenieursleistung für Detailplanung
Die äussere Holzstruktur weist geschliffene Oberflächen auf, verfügt über CTB P+-Imprägnierung und eine farblose Schutzlasur. Das deutsche Unternehmen Hess Timber, das bereits am Neubau von Frank Gehry für die Fondation Louis Vuitton beteiligt war (Lignum Journal online vom 10.11.2014), hat die Struktur konstruiert und innert zehn Monaten aufgerichtet (September 2015 bis Juni 2016).
Die Statik dieser Struktur konzipierte und berechnete das Schweizer Ingenieurbüro SJB.Kempter.Fitze, und das gesamte Geflecht wurde durch die Firma Design-to-Production im zürcherischen Erlenbach digital modelliert. Das betraf sowohl die gesamte doppelt gekrümmte Primärstruktur als auch die Sekundärstruktur am Übergang zu den Fassadenelementen.
Die Firma übernahm zudem eine aktive Rolle in der Konzeption der Montagesequenz dieser komplexen Struktur. Sie implementierte ein komplett parametrisches 3-D-CAD-Modell mit Detaillierung bis hin zur letzten Schraube sowie für die Roh- und Fertigvolumen aller Bauteile. Aus diesem Modell wurden die Fertigungsdaten für die Verleimung und Abbund der knapp 1300 Trägersegmente, ein Volumenmodell aller 3300 Fassadenrahmen und ein vollständiger Satz von Werkstatt- und Montageplänen erstellt.
Ikonische Hülle aus Sechsecken
Die grosse Konzerthalle der ‹Seine Musicale› wird von Shigeru Bans mittlerweile ikonischem Sechseckmuster umhüllt, in vorliegenden Fall materialisiert durch insgesamt 99 doppelt gekrümmte Holzträger, die sich an Knotenpunkten gegenseitig durchdringen. Die Planer von Design-to-Production erklären die Konstruktionsweise dieser Holzstruktur wie folgt:
‹Normalerweise ist bei Brettschichtholz eine gewisse Abweichung zwischen der Faserrichtung des Holzes und der Geometrie des Fertigteils unproblematisch. Für die ‚Seine Musicale‘ war der Anspruch allerdings, die Fasern exakt der Fertigteilgeometrie folgen zu lassen, um sichtbar angefräste Klebefugen vollständig zu vermeiden und somit ein absolut störungsfreies Erscheinungsbild zu erlangen.›
2800 verschiedene Kreuzungspunkte
So hätten die Rohlinge in einem mehrstufigen Prozess der Bauteilgeometrie angepasst und aus Stäbchenlamellen von nur 32 x 40 mm Querschnitt verleimt werden müssen. Abhängig von Krümmung und Länge jedes einzelnen Bauteils wurde eine von drei unterschiedlichen Verleimungsmethoden gewählt. Jede erforderte ein eigenes Set an Fertigungsdaten, angefangen von detaillierten Zeichnungen über Tabellen bis hin zu maschinenlesbaren Einstellungsdateien.
Aufgrund der Freiformgeometrie sind keine zwei der 2800 Kreuzungspunkte im Gebäude identisch. Um dies zu bewältigen, wurden alle Details in parametrischer (d.h. regelbasierter) Form angelegt und abhängig von statischen und konstruktiven Anforderungen in acht Familien mit insgesamt 120 Unterkategorien eingeteilt. Mit den Statikern wurde eine tabellenbasierte Schnittstelle definiert, die es erlaubte, geometrisches und statisches Modell synchron zu halten und so sicherzustellen, dass an allen Punkten die korrekten Detailtypen verwendet werden.
Jederzeit selbsttragende Konstruktion
Die diagonalen Träger wurden zu X-förmigen Elementen vormontiert und reihenweise plaziert. Dann wurden die bis zu 24 m langen Ringsegmente eingefahren. Dieses Konzept stellte eine jederzeit selbsttragende Struktur sicher, die nur punktuell unterstützt werden musste, um Verformungen im Montagezustand zu verhindern.
Um das Einfahren der langen Ringsegmente zu ermöglichen, mussten die Flanken der Ausschnitte an den Kreuzungspunkten individuell abgeschrägt werden. Hierzu wurde die exakte Einfahrrichtung aller Segmente vorab festgelegt. Die Bewegung wurde als Eindrehen um ein Ende jedes Segments definiert, um die Kreuzungspunkte nacheinander statt gleichzeitig einfahren zu können und die Winkel der Abschrägungen möglichst klein zu halten.
Design-to-Production wurde gegen Ende 2014 kontaktiert und anschliessend beauftragt. Rund fünf Monate später lagen die ersten Daten zur Verleimung der gekrümmten Brettschichtholzträger (CNC-Abbund) vor, drei Monate später erste Abbunddaten. Die Montage konnte rund ein Jahr nach Beginn der Berechnungen beginnen.
Kulturbauten im Akkord
Die mit der Hauptstadt räumlich und verkehrstechnisch eng verbundene, bis 1924 Boulogne-sur-Seine genannte Gemeinde wird oft auch scherzhaft als das 21. Arrondissement von Paris bezeichnet. Einzig der Bois de Boulogne markiert eine gewisse Distanz, aber sonst verschmilzt diese Agglomeration mit der ‹Ville Lumière›.
Mit Blick auf fünf weitere Musik- und Opernhäuser in Paris, so auch die vor zwei Jahren eröffnete Philharmonie, kommt doch auch die Frage auf, ob hier nicht des Guten zuviel getan wird. Sollte die für die Eröffnung vom künstlerischen Direktor Jean-Luc Choplin zelebrierte Mischung aus Folk, Pop, Rock und Klassik beibehalten werden, dürfte die ‹Seine Musicale› jedoch ein grosses und gemischtes Publikum anziehen. Choplin spricht von Händel bis Hendrix.
Um die EUR 10 Mio. sollen jährlich für den Betrieb reserviert sein, heisst es. Auf jeden Fall waren das Eröffnungskonzert vom 21. April in der ‹Salle modulable› und jenes vom 22. April mit dem hauseigenen ‹Insula Orchestra› unter Laurence Equilbey im Auditorium und dem französischen DJ The Avener auf der Hauptbühne ausverkauft.
Holz wird chic für Paris
Vor rund 130 Jahren entstanden in Paris der Eiffelturm, der Grand Palais und Les Halles sowie die grossen Bahnhöfe – alle gebaut mit Eisen und Stahl. Mit dem Bau des Centre Pompidou erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt. Heute erzählt die durch Frank Gehry gestaltete Holzstruktur der 2014 fertiggestellten ‹Fondation Louis Vuitton› beim Bois de Boulogne eine ganz andere Geschichte. Die ‹Seine Musicale› von Shigeru Ban knüpft hier an und gibt sich mit Holz ebenso futuristisch wie umweltbewusst.
Zusammen mit der ebenfalls in der Gemeinde Boulogne-Billancourt gelegenen, 1894–1910 durch den Landschaftsarchitekten Achille Duchêne geplanten Gartenanlage von Albert Kahn und der im benachbarten Sèvres seit 1756 domizilierten Königlichen Porzellanfabrik kann hier ein neuer Hotspot für Kulturtourismus entstehen, der Paris im weitesten Sinne bereichert.
Die Baubeteilgten
Bauträger: Departement Haut-de-Seine und Interessengemeinschaft ‹Tempo Île Seguin› (Bouygues Bâtiment Île-de-France, Sodexo, OFI Infravia, TF1)
Architekten: Shigeru Ban Architects und Jean de Gastines Architects, Paris
Baumanagement Engineering: Setec TPI, Paris
Generalunternehmen/Bewirtschaftung: Bouygues, Paris
Holzbau: Hess Timber, Kleinheubach (D)
Holzbauingenieur (Statik): SJB.Kempter.Fitze AG, Herisau
Parametrisierung: Design-to-Production, Erlenbach und Stuttgart
Beratung zur Holzbaustatik: Hermann Blumer, Waldstatt
Umweltstandards HQU: Cridey, Grenoble (F) | Nachhaltigkeit/Biodiversität: Elan France | Akustik: Lamoureux Acoustics (Paris) und Nagata Acoustics (Tokyo) | Haustechnik Engeneering: Artelia, Lyon (F) | Klima/Lüftung: Transsolar, Paris | Fassade/Fotovoltaiksegel: RFR Engineering, Paris | Szenografie: Ducks Sceno: Villeurbanne (F) | Landschaftsplanung: Bassinet Turquin Paysage, Paris | Restauration: PHI2 Ingénierie | Bewirtschaftung: Sodexo (Catering/Facilitymanagement), Issy-les-Moulineaux (F)
Anzahl Einzelteile Brettschichtholz: 3342 | Einzelteile Fassaden-Unterkonstruktion: 1296 | Familien Verbindungsdetails: 8 | Unterkategorien Verbindungsdetails: 120 | Bohrlöcher: 73909, gefüllt mit 19,2 km Schrauben | Baukosten gemäss Voranschlag: EUR 170 Mio.