Lignum Holzwirtschaft Schweiz

Frischer Blick auf alten Wald im Unterengadin

Der höchstgelegene geschlossene Arvenwald Europas, der God da Tamangur im Unterengadiner Val S-charl, bietet ein wunderbares Sommererlebnis für alle, welche gut zu Fuss sind. Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL zeichnet die wechselvolle Geschichte des einzigartigen Waldes in einem neu erschienenen Bericht nach.

Zwischen unzähligen vom langen Leben in alpinen Verhältnissen gezeichneten und abgestorbenen Arven wachsen im Tamangur heute auch wieder junge Bäumchen heran.
Bild Susan Lock, WSL

 

Das Erlebnis eines Gang durch den God da Tamangur lässt niemanden kalt: Ein lockerer Wald aus mächtigen, wettergegerbten Arven. Manche der mehrere hundert Jahre alten Bäume sind bereits abgestorben; ihre verdrehten Äste und silbergrauen Stämme ragen kahl in den Himmel. Holzreste liegen am Boden. Ein den Naturgewalten der Alpen und dem Tod trotzender Verband uralter Arven, ein Wald aus mächtigen Einzelbäumen – so wirkte der God da Tamangur im Unterengadin, am Ende des Val S-charl auf 2300 m Höhe gelegen, über Jahrhunderte.

Und diente damit Dichterinnen und Dichtern, Patrioten und Forstleuten, Kunstschaffenden und Naturschützern als Inspiration und Symbol – für den Tod wie für die Widerstandskraft und die Schönheit der Natur. Der rätoromanische Dichter Peider Lansel war einer, der das mächtige Bild der sterbenden Baumriesen nutzte, um auf den schleichenden Schwund seiner Muttersprache aufmerksam zu machen. Sein Gedicht ‹Tamangur› endet mit den Worten: ‹Rettet mit eurer Liebe unsere Sprache vor dem Schicksal von Tamangur!›

‹Dabei starb der Wald gar nicht, auch wenn es für manche so aussah›, sagt WSL-Forscher Matthias Bürgi. ‹Arven werden uralt. Der Wald verjüngte sich nur nicht, weil er als Waldweide diente und das Vieh nachwachsende Bäume auffrass.› Der Forscher und seine WSL-Kollegin Susan Lock sind der Geschichte des God da Tamangur nachgegangen und haben sie im neu erschienenen WSL-Bericht ‹God da Tamangur – ein Wald und seine Geschichte(n)› zusammengefasst. Sie nutzten dafür Quellen, die von alten Forstberichten über Fotografien bis zu Interviews reichen.


Dem Kahlschlag entgangen

Dass der Wald überhaupt noch existiert, dürfte laut den Forschenden der Entlegenheit seines Standortes zu verdanken sein: ‹Im Tal gab es ein Blei- und Silberbergwerk›, erzählt Bürgi, ‹für das die ganze Umgebung kahlgeschlagen wurde.› Der God da Tamangur sei diesem Schicksal wohl entgangen, weil es nicht möglich war, die mächtigen Stämme bis dorthin zu transportieren. So blieben seine Arven stehen – und wurden zur Projektionsfläche für weitere Anliegen, etwa für den Naturschutz.

Die landschaftliche Schönheit seiner Lage, die Seltenheit eines reinen Arvenwaldes, seine Faszination: ‹Der God da Tamangur wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Standort eines Schweizerischen Nationalparks propagiert›, berichtet Bürgi. Das wurde er zwar nicht, aber 2007 zum Naturwaldreservat erklärt. Die Waldweide, die ihn über Jahrhunderte geprägt hatte, war bereits in den Jahrzehnten zuvor stark zurückgegangen, was das Aufkommen junger Bäume begünstigte.

Dadurch hat sich das Bild des Waldes drastisch gewandelt, wie eine Reihe eindrücklicher Vorher/Nachher-Fotografien im Bericht zeigen: Der God da Tamagur präsentiert sich heute als lebendiger, geschlossener Bestand, in dem junge Arven verschiedenster Altersklassen zwischen den uralten Riesen wachsen. Der Wald und die ihn umgebende Landschaft werde sich weiter verändern, schreiben die Forscherinnen und Forscher, etwa weil die Klimaerwärmung Spuren hinterlassen werde. Doch es sei zu hoffen, dass der God da Tamangur bestehen bleibe, um viele weitere Generationen zu inspirieren.


Link God da Tamangur – ein Wald und seine Geschichte(n) (PDF, 40.7 MB)