Staunen erlaubt
Deutsch-chinesisches Haus an der Expo 2010 in Shanghai. Hier wurde erstmals eine an der TU Darmstadt entwickelte Technik für Bambuskonstruktionen angewendet, die auf Vélez‘Arbeiten beruht. Architektur: MUDI/Munich Urban Design International, Shanghai.
Bild MUDI
Bambus wächst weltweit in rund 1700 unterschiedlichen Arten und ist auch in Kolumbien reichlich vorhanden. Aber Bambus gilt dort als minderwertiges Material, als ‹armer› Baustoff für Provisorien oder Hilfsbauten.
Simon Vélez sieht das anders. Er nutzt den Bambus Guadua (Guadua angustifolia), der mit rund 12 cm Durchmesser und etwa 10 mm Wandstärke ideal für Konstruktionen ist. Als Graspflanze wächst Bambus rasch, im Schnitt 10–40 cm je Tag. Die Halmlängen gehen bis zu 15 m; innert etwa drei Jahren ist die Pflanze für Bauzwecke ausreichend verholzt und fest. Aus ihnen werden 9 m lange Stücke gesägt und luftgetrocknet. Sie sind nach wenigen Wochen bereit, um verbaut zu werden.
Hohe technische Leistung der Natur
Simon Vélez bezeichnet Bambus als High-Tech aus der Natur. Bambus besitzt als hohles Rohr im Vergleich zu einem massiven Stab ein hohes Widerstandsmoment. Er ist auf Zug und Druck belastbar, seine Biege- und Knickfestigkeit ist ebenfalls hoch. Aber er hat als Hohlkörper ein weit kleineres Eigengewicht als etwa Stahl oder Holz. Er bleibt elastisch und weist von Natur aus eine dichte und glatte Oberfläche auf. Bambus ist brennbar, aber schwerentflammbar, dies dank einer dichten Aussenzone mit viel Kieselsäure.
Mit Bambus zu bauen bedingt ähnliche Konstruktionslösungen wie der Holzbau. Beide sind stabförmige Konstruktionsweisen, und erst statisch wirksame Verbindungen ermöglichen weitgespannte Tragwerke oder komplexe Strukturen. Vélez hat dafür eine simple, aber wirksame Lösung gefunden: Die zu verbindenden Bambusstücke, die ja innen einen Hohlraum aufweisen, werden an den Knotenpunkten mit Beton ausgegossen. In diesem Betonkern eingelassen liegen Verstärkungen aus Stahl. Dieses einfach auszuführende Konstruktionsdetail lässt ihm viel gestalterische Freiheit.
Konstruieren nach Trial and error
Universitäre Forschungslaboratorien für Werkstoffe nach europäischem Muster kennt Kolumbien nicht. Vélez erprobt seine Konstruktionsweisen auf eigenen Faust und nach der Methode, aus Irrtümern zu lernen. Er hat damit Erfolg, denn über 8 m auskragende Dachkonstruktionen oder 30 m weit gespannte Hallen schafft er problemlos.
Vélez hat Wohnhäuser, Sozialsiedlungen, Sportbauten, Brücken, Kirchen, Markthallen und vieles mehr mit Bambus gebaut. Es genügen ihm einfache Zeichnungen, welche die Konstruktion der Teile beschreiben. Seine Bambusbauleute wissen damit virtuos umzugehen.
Doch mit zunehmendem Erfolg kommt auch er nicht darum herum, seiner Klientel computergenerierte Entwürfe zu präsentieren. Denn er hat neuerdings gutbetuchte Kunden, die sich ausdrücklich ein Bambushaus wünschen. Es gilt offenbar zunehmend als hip, in ökologisch vertretbaren Häusern zu wohnen. Mit Bambus hat das den schönen Nebeneffekt, auch ökonomisch interessant zu sein.
Auf dem Weg vom Rand in die Mitte
Simon Vélez bezeichnet sich ausdrücklich nicht als Bambusarchitekt. Er baut auch mit Holz oder mit Mischkonstruktionen aus Beton, Mauerwerk, Bambus und Holz. Aber er ist überzeugt, dass das im Bambus steckende Potential noch längst nicht ausgeschöpft ist. Und er freut sich, wenn auch andere Architekten mit ihm zusammenarbeiten. So war dies der Fall mit Shigeru Ban oder Ettore Sottsass.
Lange Zeit war Vélez in jeder Hinsicht ein Aussenseiter. Die Normierungen und Baugesetze Kolumbiens sahen Bambuskonstruktionen nicht vor. Nachdem Vélez 2009 den Prinz-Claus-Award erhalten hatte, änderte sich für ihn indessen einiges. Er konnte die Behörden in Bogotá davon überzeugen, in den Bauvorschriften Bambuskonstruktionen ausdrücklich zu erwähnen und aufgrund entsprechender Konstruktionsregeln zuzulassen. Damit ist das Baumaterial Bambus in Kolumbien quasi hoffähig geworden.