Messen und zählen über Jahrzehnte hinweg
Forschende der WSL vermessen im Aletschwaldreservat jeden Baum.
Bild Caroline Heiri | WSL
Der Aletschwald auf rund 2000 m. ü. M. zählt zu den eindrücklichsten Wäldern der Schweiz. Mächtige Arven und Lärchen trotzen oberhalb des Aletschgletschers dem rauhen Klima des Hochgebirges. Dazwischen recken winzige Sämlinge ihre Köpfe dem Licht entgegen. Totholz modert vor sich hin. Vögel und Insekten finden in den zahlreichen Höhlen und Rissen der zum Teil mehrere hundert Jahre alten Stämme Unterschlupf und Nistmöglichkeiten. Auf der nahegelegenen Jungmoräne, die der Aletschgletscher vor rund 150 Jahren freigegeben hat, hat sich ein Lärchen-Pionierwald etabliert, in dem unzählige kleine Lärchen um einen Platz zum Wachsen kämpfen.
Effort zum Erhalt eines einzigartigen Naturdenkmals
Die Natur wurde hier nicht immer sich selbst überlassen. Anfang des letzten Jahrhunderts nutzten die Menschen den Aletschwald noch intensiv. Sie sammelten Brennholz und Heidelbeeren, liessen Rinder und Ziegen darin weiden oder fällten Bäume für den Eigenbedarf oder den Verkauf. 1933 aber pachtete die Naturschutzorganisation Pro Natura das Gebiet und stellte es zusammen mit dem Kanton Wallis unter Schutz, um den Wald langfristig zu erhalten und eine natürliche Waldentwicklung zu ermöglichen.
In den vergangenen siebzig Jahren beobachteten dann Forscher der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL und der ETH Zürich fortlaufend, wie sich der Wald entwickelt. 1942, 1962, 1982 und 2012 vermassen sie in aufwendigen Inventuren alle Bäume ab einem Stammdurchmesser von 4 cm in 1,30 m Höhe. 2012 erfassten sie zusätzlich an allen Bäumen mit einem Durchmesser von mindestens 36 cm die sogenannten Habitatstrukturen wie Rindenverletzungen, Löcher, Höhlen, Risse und Kronentotholz.
Giganten und viel Totholz
Die Forschenden führten zudem eine Stichprobeninventur durch, erstmals auch in dem 1999 dazu gekommenen Reservatteil im Westen und Süden, um sich ein umfassendes Bild von den Waldstrukturen zu machen. Dank der kontinuierlichen Erforschung des Aletschwaldes über sieben Jahrzehnte hinweg ist es heute möglich, die Entwicklung der beiden charakteristischen Waldtypen – des Lärchen-Arven-Altbestandes und des Lärchen-Pionierwaldes – umfassend zu beschreiben. Die WSL hat die Datenreihen in der Zwischenzeit ausgewertet und die Ergebnisse in zwei Berichten publiziert.
Die wichtigsten Ergebnisse: Obwohl im Lärchen-Arven-Altbestand immer noch deutliche Spuren der früheren Nutzung erkennbar sind, etwa abgesägte und noch kaum vermoderte Wurzelstöcke, hat sich dieser Wald innert siebzig Jahren klar in Richtung eines Naturwaldes entwickelt. Er ist heute erheblich dichter. Verglichen mit 1942 hat sich die Anzahl Bäume etwa vervierfacht. Pro Hektare wachsen zudem rund sieben sogenannte Giganten, Bäume mit einem Stammdurchmesser von mindestens 80 cm, wie sie in bewirtschafteten Wäldern kaum noch zu finden sind.
Die Zusammensetzung der Baumarten hat sich hingegen nur wenig verändert. Der Aletschwald wird immer noch von der Arve dominiert. Doch die Lärche hat in den vergangenen Jahrzehnten ihren Anteil erhöht, und auch Laubbäume wie Birke, Alpenerle, Vogelbeere und Weiden sind heute im Reservat vereinzelt zu finden. Pro Hektare fanden die Forschenden ausserdem 24 m3 Totholz, was deutlich mehr als in einem durchschnittlichen Schweizer Wald ist.
Zu viele Hirsche
Einen Wermutstropfen gibt es: Seit 1982 beobachten die Forschenden, dass die Anzahl kleiner Bäume nicht mehr zunimmt oder sogar schrumpft. Insbesondere im Lärchen-Arven-Altbestand wachsen deutlich weniger Jungbäume nach, als für die langfristige Walderhaltung nötig wäre. Alles deutet darauf hin, dass der grosse Hirschbestand die natürliche Waldverjüngung hemmt und dadurch die langfristige Zukunft des Aletschwalds gefährdet.
Diese Ergebnisse der Aletschwald-Forschung gaben Anstoss zur Bildung einer Arbeitsgruppe, die sich nun dieses Problems annimmt. Vertreter der Waldeigentümer, der beiden Dienststellen für Wald und Landschaft sowie für Jagd, Fischerei und Wildtiere des Kantons Wallis sowie von Pro Natura wollen gemeinsam Lösungen finden, um den Aletschwald und seine einmalige Vielfalt langfristig zu sichern. Ob es gelingt, könnte eine nächste Inventur im Jahr 2032 zeigen.
Link www.wsl.ch